Wenn die Ängste mein Hirn kapern

Ich stehe neben meiner Tochter, die langsam und vorsichtig über einen Baumstamm balanciert. Dann klettert sie eine Mauer hoch und reckt stolz die Arme in die Luft. Sie springt mir in den Arm. Wenig später entdeckt sie einen Baum. Er eignet sich fantastisch zum Klettern. Aber er ist hoch.

Sie arbeitet sich vor. Schnell ist sie in einer Höhe, in der ich ihr keine hilfreiche Hand mehr reichen kann. Wenig später ist selbst der Fuß außerhalb meiner Reichweite. Ich beginne zu schwitzen.

Von einem Moment auf den anderen bin ich keine gelassene Beobachterin mehr. Vor meinem inneren Auge steigen Horrorbilder empor. Bilder wie sie abrutscht und stürzt. Wie sie den Halt verliert und kopfüber vom Baum segelt. Ich kann nicht mehr klar denken, Panik erfasst mich.

Die Ängste kapern mein Hirn

Solche Situationen ereilen mich häufig unerwartet. Ich bin nicht besonders ängstlich und habe viel Zutrauen in die Bewegungsfähigkeit meiner Kinder. Aber wenn die Ängste mich einkriegen, geht die Rationalität flöten. Dann werde ich hektisch und unruhig und keife meine Tochter an, sie solle herunter kommen. Ich verunsichere sie mit meinen Ängsten und erreiche damit nicht selten, dass auch sie Panik bekommt. Es wird geweint, geschrien. Nicht selten passiert genau dann etwas potenziell Gefährliches. Selbsterfüllende Prophezeiung – meine Hektik hat uns gemeinsam ins Chaos gestürzt.

Natürlich ist mir bewusst, dass dieses Verhalten wenig zielführend ist. Ich empfinde eine unreflektierte Mischung aus Angst und Zorn, die sich dann bisweilen an meiner Tochter oder gern auch an meinem Mann entlädt. Eigentlich gilt der Ärger dabei mir – wieso habe ich so überstürzt gehandelt? Warum war die Ruhe plötzlich weg? Häufig ist mein Verhalten Ergebnis meiner eigenen Stimmung. Mein Tag war lang, die ToDos sind nicht erfüllt, die Zeit für mich war zu knapp. 

Mein Erziehungsziel

Ich wünsche mir, dass meine Kinder stark werden, mutig und selbstbewusst. Sie sollen ein gutes Körpergefühl entwickeln und ein großes Zutrauen in ihre eigenen Kompetenzen haben. Dazu gehört ein gesundes Empfinden für ihr aktuelles Können. Die Vorstellung beruhigt mich, dass sie ihre Fähigkeiten kennen, sie einzusetzen und nicht maßlos zu überschreiten wissen. Weiterentwicklung geschieht in der Lernzone – nur wer sich aus dem eigenen Komfortbereich herauswagt, lernt dazu.

Und doch gehört auch die Angst dazu. Sie gehört zu mir. Und auch meine Tochter hat immer wieder mit einer großen Angst zu tun. In Panik agieren wir nicht rational und in den meisten Fällen ist sie daher kein guter Berater. In einigen stößt sie allerdings unsere Intuition an und sorgt für eine schnelle und lebensrettende Handlung. Deshalb unterstütze ich meine Tochter bei Akzeptanz und Wahrnehmung ihrer Ängste. Denn aus meinem eigenen Erleben weiß ich: Verdrängen kann man sie nicht! Und ein abgewogener Umgang mit der Angst gehört genauso zum Heranwachsen wie Mut und Selbstvertrauen. 

Was ich dafür tun kann

Gerate ich in die Panikzone, verhindere ich das Lernen meiner Tochter. Und auch mein eigenes. Denn die Bereitschaft zu erkennen, dass meine Tochter erfolgreich ist und ihre Kräfte richtig einschätzt, ist nicht vorhanden. Ich will uns nur aus dieser Situation holen, sie feste in den Arm nehmen, wiegen, sie und mich beruhigen. Meine Umarmung ist dann allerdings meist das Letzte was sie will. Sie ist sauer auf mich und die Situation. Sie wollte es doch alleine schaffen. 

Ich habe sie verunsichert und ihr die Sicherheit genommen. Dieser Gedanke macht mir zu schaffen. Genau dieses Gefühl möchte ich ihr doch niemals geben. Sie soll sich von mir unterstützt fühlen. Ich möchte, dass sie weiß, dass ich ihr eine Menge zutraue und dass ich stolz bin auf ihren Mut. Ich finde es klasse, dass sie gerne auf Bäume klettert und ich liebe ihre Geschicklichkeit bei vielen Bewegungsabläufen. Es ist völlig widersinnig: ein selbstbewusstes Kind benötigt von mir Zutrauen und Unterstützung, keine Angst.

Kapern die Ängste mein Hirn, dann hilft es nicht sie zu verdrängen. Panik hilft ebenso wenig. Beende ich die Situation und bitte meine Tochter halbwegs ruhig das Klettermanöver vorerst zu beenden, dann können wir versuchen darüber zu sprechen. Ich kann ihr erzählen, dass ich in Sorge war und mit ihr überlegen, wie wir einen neuen Versuch wagen können. Vielleicht bietet sich ein anderer Baum an. Oder wir vereinbaren eine maximale Kletterhöhe. Oder Mutti klettert mit. Das führt nicht immer zu Zufriedenheit und manchmal bedeutet es für die Kletterlust meiner Tochter das Ende. Trotzdem fühle ich mich wohl damit. Ich habe mich fürsorglich verhalten. Denn ebenso wie übermäßige Angst und Vorsicht halte ich Nachlässigkeit an dieser Stelle für gefährlich: Meine Tochter ist vier. Sich selbst und ihre Fähigkeiten einzuschätzen, lernt sie nach und nach. Und zu diesem Lernprozess gehören Unter- und Überschätzung gleichermaßen. Überschätzt sie sich zu sehr, dann möchte ich präsent sein um Grenzen aufzuzeigen. Denn es ist auch meine Verantwortung ein Abenteuer zu beenden das zu große (für sie nicht absehbare) Gefahren mit sich bringt. 

Wenn es gelingt

Meine Tochter klettert die dicken Steine einer Mauer hoch. Sie sucht sich gute Haltegriffe und nutzt ihre Kräfte geschickt. Dann drückt sie sich ab und steht ganz oben. Es war mühsam, aber sie hat es geschafft. Ihre Wangen glühen rot, ihre Augen strahlen. Sie lächelt mich an und ruft: Mama, ich habe es geschafft! Ich bin oben! Ich sehe sie dort stehen, ca 2,5 Meter weit oben. Und ich empfinde einen unbändigen Stolz. Mein kleines mutiges Mädchen hat es geschafft! Ich klatsche ihr zu und strahle zurück. Toll gemacht, du Klettermaus! Diesen Stolz zu empfinden ist ein irres Gefühl. Es fühlt sich an als sähe ich ihr dabei zu, wie sie ein kleines Stückchen wächst. Als sammele sie ein weiteres Teil des großen Mut-Puzzles, das sie hoffentlich gut durch ihr Leben geleiten wird. 

Ich bin stolz auf meine Tochter und stolz auf mich – denn auch ich war mutig. Und ich hatte Zutrauen in sie. Dieses Zutrauen wurde belohnt und bestätigt. Ihre eigene Einschätzung war richtig. Ich konnte sie klettern lassen und wir beiden merkten: Es klappt! Den Ängsten zum Trotz. Erlebnisse wie dieses stärken mein Vertrauen in das heile Großwerden meiner Mädchen. In ihr Können und in meinen angemessenen Lern-Rahmen. So erscheinen die Ängste weniger bedrohlich und meine Komfortzone wächst.  

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