
Neulich las ich die Rezension eines Buches. Es erzählte von einer Familie, die sich gemeinsam eine Auszeit nahm. Sie brach alle Zelte in der Heimat ab und machte eine einjährige Weltreise. Die Mutter erklärte, sie hätten irgendwann festgestellt, dass der Alltag sie auffresse. Er nähme fast alle Zeit in Anspruch, es bliebe kaum Raum für gemeinsame Erlebnisse. Sie alle hetzten nur ihren Verpflichtungen und Plänen hinterher und hätten kaum noch Zeit, um miteinander durchzuatmen. Ich war vom ersten Moment an fasziniert: Eine großartige Vorstellung. Ein Jahr auf Pause drücken, Müßiggang zelebrieren, anders leben.
Das geht mir jedes Mal so: Immer, wenn ich Bücher lese oder Filme sehe über Aussteiger und Menschen, die ihren Alltag für eine Reise unterbrechen, bin ich hingerissen. Die Sehnsucht danach in mir ist irre groß: Gemeinsam in den Tag hineinleben, die Welt entdecken, einander auf ganz neue Weise kennen lernen. Es gibt so viele Orte auf der Welt, die ich gerne bereisen, so vieles, was ich meinen Kindern zeigen möchte.
Wenn ich auf Reisen war – in meiner Welt vor den Kindern – dann waren das jedes Mal wunderbare Erlebnisse. Ich liebe es meinen Rucksack zu packen und ferne Orte zu erkunden. Es ist eine faszinierende Kombination aus Aufregung, Neugierde und unbändiger Faszination für die Vielfältigkeit unserer Erde. Mit Menschen fremder Orte zaghaft in Kontakt zu kommen, unbekannten Kulturen näher kennenzulernen, zu beobachten, Neues auszuprobieren… Reisen erfüllt mich mit einer unglaublichen Wärme und einer großen Liebe zum Leben.
Denke ich darüber nach und fühle ich mich zurück in dieses Reise-Gefühl, dann spüre ich etwas sehr deutlich. Ich liebe die fremden Gerüche, Farben und Landschaften. Ich liebe es überwältigende kulturelle Schätze zu besuchen und durch verschlafende Orte zu wandern. Aber was ich am meisten liebe, das ist die Art wie ich dann bin. Ich mag mich, wenn ich unterwegs bin. Ich fühle mich frei und offenherzig und der Welt zugewandt. Ich fühle mich dem Fremden nah und bin wach und lebenshungrig. Ich bin ausgeglichen und strahle mehr und bin dabei ganz bei mir. Die Welt erscheint mir schöner, die Sonne wärmer und die Aussicht auf einen neuen Tag ist wunderbar. Immerhin bringt er spannende, neue Erlebnisse und Begegnungen mit sich.
So sehr ich mich verliebt habe in Boliviens endlose weiten, die wunderschönen Straßen von Essaouira oder die unglaubliche Freundlichkeit der Inder, so sehr glaube ich doch, dass meine Zufriedenheit auf Reisen nicht mit diesen Orten oder Menschen zusammenhing. Es war vielmehr die Unterbrechung des Gewohnten, des täglichen Trotts, der mir manchmal wie ein hektisches Hamsterrad erscheint. Sie machte mich glücklich.
Ähnlich wie die Berichte all der Ausbrecher und Weltenbummler vermuten lassen, beginnt das wunderbare Erleben mit dieser Pause. Wohin die Reise führt, erscheint mir dabei nahezu unbedeutend. Hauptsache, (fast) alles ist anders.
Und so komme ich zu der Frage: Wieso leben wir auf diese Weise? Viel zu viele Menschen um mich herum fühlen sich häufig gestresst, sind müde und abgekämpft und kaum noch in der Lage, den Blick für das Schöne zu erhalten. Viel zu oft haste ich den ganzen Tag lang durch die Gegend, mache mir selbst Druck, um möglichst erfolgreich dabei zu sein. Ständig beschäftigt zu sein, wird in unserer Gesellschaft vielfach als Qualität angesehen. Erfolg wird an Einkommen, Größe des Hauses oder Schönheit bemessen. Wer sich Zeiträume für Pausen schafft, wird schräg angesehen.
Wir rennen einem gesellschaftlichen Ideal hinterher und versuchen auf allen Ebenen zu glänzen: Im Haushalt, als Eltern, in der Partnerschaft, im Job, als Frau (oder Mann), in der Gesellschaft. Wir ackern und ackern und sind ständig müde und gestresst. Wir streiten uns viel, tun uns selbst leid und gehen mit anderen hart ins Gericht. Und eines Tages stellen wir plötzlich fest, dass die Zeit davongerannt ist. Unsere Kinder sind ziemlich groß und lieber anderswo als zu Hause. Wir gehen auf die 50 zu, sind immer noch müde und nun auch traurig, weil wir über all die Arbeit und dem „Hinterherhecheln“ irgendwie das Leben vergessen haben. Und plötzlich ist ein großer Teil davon vorbei. Vorbei getrieben, während wir versuchten perfekt zu sein.
Und dann als Maßnahme eine Weltreise? Ein Jahr Pause von all dem, einander wieder nahekommen und die Zeit als Familie nutzen, die noch bleibt?
Das erscheint mir so verrückt! Ich möchte so nicht leben! Ich möchte keine Reise brauchen, um aufzuatmen. Und um danach wieder in den Trott und die Hetze zu verfallen – bis die nächste Reise naht. Das würde bedeuten, dass der Großteil meines Lebens dahinfliegt und hauptsächlich anstrengt. Und nur hier und da das gute Leben wartet. Im Grunde wissen wir, dass viele Menschen in anderen Ländern sehr zufrieden sind, indem sie ihre Schwerpunkte ganz anders setzen: Mehr Zeit für Ruhe, Begegnungen, Genuss. Dafür weniger Geld, weniger materieller Luxus.
Sie macht mir Angst diese Vorstellung, dass die Zeit uns davonläuft und wir den Blick für das Schöne und all seinen Zauber verlieren. Auch ich möchte wieder reisen. Ich liebe es wirklich und ich liebe ganz besonders, was es mit mir macht. Ich möchte meine Kinder einführen in dieses Wunder, das einem stets unterwegs begegnet. Immer – egal wo. Aber noch lieber als all das, würde ich gerne mein Reise-Ich mit meinem Alltags-Ich verbinden. Oder zumindest einen Teil davon. Ich möchte mir auch heute und morgen, hier und jetzt, Räume schaffen um fasziniert zu sein: Von meinen großartigen, quirligen Mädchen, von unerwartet netten Begegnungen, von schönen Orten. Wach und offenherzig möchte ich meinen Alltag bestreiten und mich von meinem Leben in Erstaunen versetzen lassen. Denn es ist wunderbar und ich habe wirklich großes Glück.
So bin ich auf der Suche nach einem Konzept für mein Leben – eingebettet in unser Familien-Dasein. Ein Konzept, das verspricht, zufrieden und ausgeglichen zu machen. Ich möchte Zeit haben, um das Leben zu genießen. Und ich möchte nicht perfekt sein. Es wäre wunderbar, wenn ich eines Tages resümieren würde: Das war für mich und uns genau richtig. Wir hatten ausreichend Zeit und Raum und Ruhe füreinander und die Dinge, die uns wichtig sind. Wir haben unser Leben als Familie mit Liebe gefüllt und mit zahllosen wunderbaren Erlebnissen. Ganz wie auf Reisen – auf der Reise durch unser (Familien)Leben.