Erziehung zur Offenheit

Es ist für mich ein Wagnis darüber zu schreiben. Die politische Korrektheit und die emotionale Aufgeladenheit des Themas, machen es explosiv. Gleichzeitig beschäftige ich mich immer wieder mit der Frage: Wie kann eine Erziehung zur tatsächlichen Toleranz und Offenheit gegenüber Neuem gelingen? Wie können wir uns nachhaltig von starren Rollen- und Geschlechterbildern entfernen? 

Es ist ein mühsames Thema. Die Perspektiven scheinen sehr unterschiedlich und kontrovers. Manch eine:r identifiziert sich stark mit der traditionellen Geschlechterrolle und gibt diese selbstverständlich an Kinder weiter. Wieder andere leben das andere Extrem, vergeben Geschlechts-neutrale Namen und schließen konsequent „typisch Junge, typisch Mädchen“ aus. Die meisten von uns – so mutmaße ich – schwimmen irgendwo dazwischen.

Ich möchte es richtig machen. Jedenfalls besser als unsere Elterngeneration. Wir bemühen uns unseren Kindern weder „Mädchen“-typische Spielsachen noch Verhaltensweisen vorzugeben. Auch bei der Kleidung war mir das wichtig – bis die Große lila für sich entdeckte und alles lila sein sollte. Und doch habe ich mir immer Töchter gewünscht. Schon als ich selbst ein Kind war, wollte ich Kinder. Und zwar Mädchen. Viele Frauen wünschen sich Töchter. Das ist antiquiert und steht im Widerspruch zu jeder gender-neutralen Erziehungsidee. Und ich finde es ja richtig, sogar wichtig klassische Rollenbilder zu verlassen und unsere Kinder in ihrer freien Entfaltung zu unterstützen. Ganz egal wohin die geht. 

Warum also habe ich mir Töchter gewünscht? Wenn die Erziehung doch keine Unterschiede macht? Wenn wir unseren Kindern beibringen wollen, dass sie sein können wer sie möchten? Und tun können, wonach ihnen der Sinn steht? Ich habe eine Reihe von Erklärungsansätzen dafür. Legt man deren Kern frei, steht da immer wieder das gleiche Resultat: Eine Unterscheidung von Eigenschaften und Verhaltensweisen bei Jungen und Mädchen. Und damit eine Unterscheidung in Erziehung und Umgang mit ihnen.

Also: Leben wir das Ideal das wir unseren Kindern mitgeben möchten? Wenn ich mir insgeheim eine Tochter wünsche – widerspreche ich dann nicht meinem eigenen Anspruch? 

Es ist mir wichtig, dass meine Kinder von klein auf lernen, dass es Männer gibt die Männer lieben und Frauen die sich für Frauen interessieren. Und dass es Menschen gibt, die beides tun. Dass sich manche Jungen in ihrem Körper nicht wohl fühlen und lieber ein Mädchen sein möchten – und anders herum. Und dass man das heute ermöglichen kann. Meine Töchter sollen erleben, dass es eine Vielzahl an Hautfarben gibt und Sprachen die wir nicht verstehen (die wir aber lernen können). Dass Menschen an unterschiedliche überweltliche Dinge glauben – und andere an die Natur. Sie sollen damit vertraut sein, dass es Kinder und Erwachsene gibt, die nicht sehen, hören oder gehen können. Und dass all diese Menschen in Ordnung sind so wie sie sind.

Und doch: Wie würde es mir damit gehen, wenn eine meiner Töchter zunehmend spüren würde, dass sie im falschen Körper geboren wurde? Wenn mein kleines Mädchen irgendwann ein kleiner Junge wäre? Ich weiß, dass mein Mann und ich uns für unsere Kinder einsetzen und sie bei all dem unterstützen würden. Es wäre keine Option sie damit im Stich zu lassen oder sie gewaltsam in einem Rollenbild zu drängen, dem sie nicht entsprechen wollen. Aber wie würde es sich anfühlen? Neben all den Sorgen, die wir sicher hätten. Gäbe es da auch Empfindungen wie Scham oder Schuldgefühl? Den Gedanken etwas falsch gemacht zu haben? Die Sorge von anderen kritisiert oder belächelt zu werden?

Ich möchte meinen Kindern beibringen, dass sie gut sind genauso wie sie sind. Zwei fantastische kleine Individuen mit ihren ganz eigenen Köpfen. Ich möchte sie so sehr mit Liebe und Zutrauen überschütten, dass sie sich wagen können all das auszprobieren, was sie reizt. Jeden Sport, jede Freundschaft, (nahezu) jedes Hobby. Sie sollen in sich hineinspüren und empfinden dürfen, was immer sie mögen. Anziehung zu Mann oder Frau, Mut zum Versuch. Ich wünsche mir, dass sie sich bei uns stets geborgen, aufgefangen und verstanden fühlen. Dass sie ihre Sorgen oder Unsicherheiten niemals in Drogen ersticken oder bei falschen Freunden abladen, sondern stets bei eng Vertrauten lassen können. Sie sollen nicht das Gefühl haben, unser Bild von ihnen erfüllen zu müssen. Sie sollen ihr ganz einzigartiges Bild von sich basteln und zeichnen – so individuell und einzigartig wie sie sind. 

Und ich wünsche mir, dass meine Kinder die Offenheit und Toleranz mit der wir ihnen begegnen möchten auch auf ihr Umfeld übertragen. Dass sie Fremdem stets mit Neugierde und Interesse begegnen und sich keinen dummen gesellschaftlichen Vereinfachungen unterwerfen. Dass sie anderen Menschen gute Freunde und Vertraute sein können und die Vielfalt in ihrem Leben als Bereicherung empfinden. Und dass sie trotzdem den Mut finden, ihre Meinung zu sagen. Denn auch sie dürfen Grenzen der eigenen Offenheit erleben und darüber sprechen. 

Denn für mich – und mehr noch für meine Kinder – wünsche ich mir eine rundum tolerante, gleichberechtigte und offene Gesellschaft. Mir scheint, diese erreichen wir durch Gespräch, ehrliche Unsicherheit und Kritik. Ich selbst spüre ja diese Widersprüche zwischen den eigenen Ansprüchen und dem inneren Gefühl. Ich möchte sie überwinden, indem ich mich wage, offen darüber zu sprechen und daran zu arbeiten. Und dafür plädiere ich! Denn manchmal, so scheint mir, wird die Diskussion um Erziehung zu Offenheit und Gleichheit nicht ehrlich geführt. Die Sorge, etwas falsches zu sagen, ist groß. Wir müssen noch viel lernen auf diesem Feld und das gelingt nicht unter Druck – oder mit dem Holzhammer. Wir werden nur vorankommen, wenn wir großzügig miteinander sind. Wenn wir uns sprachliche Fehler erlauben und das eigene Unbehagen Raum haben darf. Ansonsten benehmen wir uns vielleicht modern und den Erwartungen entsprechend, das Gefühl kommt aber nicht mit. Und dann wird es bei der Erziehung nicht von Erfolg gekrönt sein. Denn nur was wir fühlen, erscheint glaubhaft. Nur wenn wir felsenfester Überzeugung sind, dass jeder Mensch auf dieser Erde in gleicher Form einzigartig und wertvoll ist; nur dann können wir diese Werte auch vermitteln. 

Und dann ist es unseren Kindern eines Tages vielleicht wirklich egal, welches Geschlecht ihre eigenen Sprösslinge haben werden. Das wäre jedenfalls mein erklärtes Ziel – das wäre wunderbar!

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