(K)eine Frage der Stärke

„Sei stark!“ Seit ich denken kann, ist dies mein Antreiber Nummer eins. Die Stärke ist mein Zuhause – hier fühle ich mich wohl. Mit ihr weiß ich umzugehen, wir zwei sind ein gutes Gespann. Und sie ist eine tatkräftige Wegbegleiterin. 

Als „starke Persönlichkeit“ nehme ich die Dinge in die Hand. Ich organisiere, ich koordiniere, ich gehe voran. Jemand braucht meine Hilfe? Ich helfe – meist sofort. Mit guten Ratschlägen, mit konkreten Vorschlägen, mit Tipps, Zuhören, Trösten, Ablenken… was auch immer mir gerade hilfreich erscheint. Ein Projekt steht an? Ich überlege was ich tun kann. Wie bin ich von Nutzen? Wie kriegen wir das geschafft? Ich stelle Kontakte her, knüpfe Verbindungen, lade ein, veranstalte Feste. Ich buche Urlaube, plane das Familienprogramm, ich halte Kontakte, ich gebe Antworten.

Stark sein steht mir und ich mag mich so: In Bewegung und nützlich.

Von Hause aus war das eine gern gesehene Eigenschaft. Auch meine Mutter strahlte Stärke aus. Sie hatte stets hohe Ansprüche an sich selbst und übertrug diese gerne auf uns. Sie war beruflich erfolgreich und begann früh mit dem Wiedereinstieg in den Job – mit zwei kleinen Kindern. Gleichzeitig machten meine Eltern sich viele Gedanken um eine gute Kindererziehung und verbrachten immer viel und engagiert Zeit mit uns. Meine Mutter erfüllte in vielerlei Hinsicht das Klischee der perfekten Hausfrau: bei uns war es stets ordentlich, das Essen war immer vollwertig und frisch gekocht. Jeden Freitag backte sie einen Kuchen für das Wochenende. Auch uns sahen meine Eltern gerne in Bewegung. Wir erhielten früh kleine Aufgaben im Haushalt, waren jederzeit engagierte Schülerinnen und (fast) nie krank. Die Menge der Fehlstunden die ich in 13 Jahren Schulzeit ansammelte war lächerlich gering. So lernte ich: gut ist, wer ständig etwas zu tun hat, Stress gehört zum Leben und krank sein ist etwas für schwache Menschen, die sich morgens nicht zum Aufstehen motivieren können.

Was die Stärke betrifft, erscheint mir unsere Gesellschaft zwiegespalten. Starke Männer werden häufig als „Macher“ wahrgenommen. Sie scheuen weder Anstrengung noch Arbeit um erfolgreich zu sein. Wirtschaftlich sind sie Gewinner: Ziele setzen, Maßnahmen entwerfen, engagiert zur Tat schreiben, Erfolge erzielen. So wird Umsatz gemacht! Anders steht es jedoch um die Frauen. Nicht selten habe ich das zu hören bekommen und jedes einzelne Mal hat es mich verletzt: ich sei zu stark (für eine Frau?). Mit mir sei es kompliziert, ich sei zu dominant und wortstark. Frauen wolle Mann immerhin beschützen. Meinungsstärke, Diskussionsfreude und Klugheit schienen dem im Weg zu stehen.

Und so entstand in mir ein Konflikt der mich teilweise bis heute beschäftigt und berührt. Wie bin ich richtig? Was ist erwünscht?

Rational betrachtet ist mir heute klar, dass ich diese Frage abschütteln sollte. Mit meinem Weg zu mir möchte ich mich zunehmend von den Ansprüchen anderer und der Gesellschaft lösen und meinen Kern finden. Aber es ist alles andere als einfach herauszufinden, wie viel Stärke ich selbst fühle und fühlen möchte.

Es ist für mich ein langer Weg zu lernen, dass ich Schwäche zulassen darf. Dass es in Ordnung ist, traurig, hilflos und orientierungslos zu sein und anderen meine Schwäche zuzumuten. Ich muss lernen, dass es Dinge gibt, die ich nicht gut kann. Und dass das völlig in Ordnung ist. Auf meinem Weg wurde mir klar, dass ein Zulassen meiner Schwäche auch mein Umfeld vor Herausforderungen stellt. Der Blick der anderen auf mich ist auch von Stärke gezeichnet. Es war vielmals schmerzhaft zu erleben, dass meine Suche nach Stütze und Halt bei meinem Umfeld auf Hilflosigkeit stieß. So ließ mich eine plötzliche Erkrankung in meiner Familie ungeahnte Ängste erleben. Mit dieser Traurigkeit waren meine Freund:innen zunächst überfordert. Mein Mann, meine Freund:innen, meine Kernfamilie: sie alle lernten und lernen mit mir diese Seite an mir auszuhalten, sie zu akzeptieren; vielleicht sogar sie wertzuschätzen. Ich sehe es als einen großen Schritt in meiner eigenen Entwicklung an. Ich arbeite an meiner Balance aus Stärke und Schwäche, an der eigenen Akzeptanz und dem liebevollen Blick auf mich selbst.

Hinterfrage ich die Motive der Männer die meiner starken Seite gegenüber Ablehnung signalisieren, komme ich zu einer weiteren Erkenntnis: Ich bin stolz darauf eine starke Frau zu sein! Ich bin der Meinung, dass meine Eltern es in manchen Bereichen übertrieben haben mit der „Erziehung zur Widerstandsfähigkeit“. Ein paar umsorgte und gemütliche Krankentage mehr hätten weder mir noch meinem Notendurchschnitt geschadet. Und das Leben meiner Mutter verliefe mit Sicherheit genussvoller, unterläge sie nicht immer wieder einem tiefsitzenden Perfektionismus. Aber: Welche Selbstaussage machen diese Männer eigentlich, denen ich „zu dominant“ erscheine? Im Grunde offenbaren sie damit ihre eigene Schwäche. Sie outen sich als antiquiert und selbstunsicher. Denn nur ein Mensch der mit seiner eigenen Stärke hadert, muss sich von meiner angegriffen fühlen. Stärke hat mit Weiblichkeit oder Männlichkeit nichts zu tun. Das weiß ich heute.

Wer sich Frauen wünscht, die stark und erfolgreich die Familien- und Lebensorganisation händeln, sich aber außerhalb dieses Bereichs zurückhaltend und hilfebedürftig darstellen, der hat sich im Jahrtausend vertan. Wenn wir gleichberechtigt miteinander leben und arbeiten wollen, wenn wir Care-Arbeit und Berufstätigkeit als wertegleich betrachten und gleichwertig auf unseren Schultern verteilen wollen. Wenn wir gleiche Gehälter und gleiche berufliche Entwicklungschancen erreichen wollen, dann müssen wir uns auch von „typisch Mann“, „typisch Frau“-Attributen trennen. Jede(r) von uns ist manchmal stark, manchmal schwach. Und nur wenn wir es zulassen, können wir genau das erleben: Momente in denen wir ungeahnte Stärken und Ressourcen spüren und diese uns mutig voranschreiten lassen. Und genauso schwache Momente in denen uns die Kräfte ausgehen und der Mut nicht greifbar ist. Mittlerweile weiß ich: Auch meine Schwäche gehört zu mir. Sie ist wichtig, denn auch mit und durch sie entwickele ich mich weiter und lerne Neues über mich.

Erfolg und Zufriedenheit in meinem Leben sind keine Fragen der Stärke. Der ehrliche Zugang zu mir selbst, die Akzeptanz meiner starken und schwachen Momente und die Zuversicht genauso geliebt zu werden. All das hilft mir dabei meinen Weg zu gehen.

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