Teil 1: Das Riemann-Thomann-Kreuz

Setzen wir uns mit beruflicher Orientierung auseinander, dann kommen wir immer wieder zu der Frage, wie wir aufgestellt sind. Die fachlichen Kompetenzen sind dabei recht gut darstellbar. Wir leiten sie aus Berufserfahrung, Ausbildung und Studium ab. Dabei vergessen wir zwar häufig viele Aspekte, es lässt sich trotzdem eine gute Liste an Fachkompetenzen erstellen. Meist gelingt uns das (recht) leicht. Geht es um Fakten, öffnen sich wenige Fragen oder Unsicherheiten: Ich kann Kalkulationen mit Excel erstellen. Ich beherrsche Englisch verhandlungssicher. Ich kenne die Prinzipien effektiver Produktplatzierung im Verkaufsraum.
Schwieriger wird es bei Soft Skills. Was unsere Persönlichkeit ausmacht, welche kommunikativen, sozialen oder emotionalen Kompetenzen wir besitzen, das zu nennen fällt vielen Menschen deutlich schwerer. Es fühlt sich vermessen und abgehoben an zu behaupten, ich sei äußerst empathisch und differenziert in der Wahrnehmung von Zwischentönen. Oder ich wäre besonders gut in der Lage, Gespräche zu gestalten und Konflikte zu begleiten.
Der Ursprung dafür liegt möglicherweise darin, dass viele Fachkompetenzen (mehr oder weniger schwer) erlernt werden können. Soft Skills können ebenfalls trainiert werden. Gleichzeitig sind die enger mit unseren Persönlichkeitsstrukturen verwoben.
Unsere Persönlichkeit ist bedeutsam, wenn es darum geht ein Arbeitsumfeld zu finden, das gut zu uns passt. Denn nur wenn wir uns wohl fühlen, binden wir uns an den Job und erbringen gute Leistung.
Das Riemann-Thomann-Kreuz
In diesem Zusammenhang gibt es ein spannendes Modell: Das Riemann-Thomann-Kreuz. Anhand eines Fragebogens können wir untersuchen, wo wir uns in dem abgebildeten, zweidimensionalen Raum platzieren. Betrachten wir das Koordinatensystem, dann haben viele von uns vermutlich bereits eine Idee, welche Komponenten für sie Zufriedenheit versprechen. Die Beantwortung des Fragebogens kann zusätzliche Klarheit verschaffen.
Auf Basis der Grundformen von Angst nach Riemann, entwickelte Thomann diese zweidimensionale Darstellung: Auf der einen Achse stehen sich „Wechsel“ und „Dauer“ gegenüber. Auf der anderen „Nähe“ und „Distanz“. Diese Pole können sowohl im beruflichen, als auch im privaten Kontext interessant sein. Wir können uns ansehen, wie wir aufgestellt sind. Gleichzeitig kann es sehr informativ sein, Kollegen, Vorgesetzte oder Partner ebenfalls anhand dessen zu betrachten. In Zusammenarbeit und Zusammenleben können Ähnlichkeiten gleichermaßen hilfreich oder schwierig sein. Mit Unterschieden verhält es sich ebenso. In jedem Fall können wir auf diese Weise Erklärungsansätze für Konflikte, Missverständnisse oder unterschiedliche Blickwinkel finden.
Dauer und Wechsel
Menschen, die sich dem Wechsel sehr verbunden fühlen, streben nach stetig Neuem. Sie suchen sich verändernde berufliche Tätigkeiten und schrecken nicht vor ungeahnten Herausforderungen zurück. Sie arbeiten gerne mit neuen Menschen zusammen, ziehen Wohnort- oder Arbeitgeberwechsel in Betracht und suchen im Privaten nach immer neuen Anreizen.
Die Dauer stellt dabei den Gegenpol dar. Menschen, die sich hier positionieren, schätzen Beständigkeit und die Zuverlässigkeit ihres Umfeldes. Sie suchen klar abgegrenzte Aufgabenfelder in konsistenten Teams. Auch im privaten Kontext genießen sie lebenslange Freundschaften, örtliche Verwurzelung und Kontinuität.
Wird beides extrem ausgelebt, kann es hinderlich werden. Stetiger Wechsel macht ruhelos und verhindert, anzukommen und Wurzeln zu schlagen. Ein hohes Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit macht träge und erschwert Entwicklungsmöglichkeiten. Gleichzeitig kommen beide Extreme miteinander häufig nicht gut aus. Es mangelt an Verständnis und sie empfinden einander als zu unstet bzw. zu langweilig.
Nähe und Distanz
Menschen, die in Beruf und Privatleben nach Nähe suchen, brauchen starke emotionale Bindungen zu anderen, damit es ihnen gut geht. Sie schließen auch im Job Freundschaften und umgeben sich gerne mit ihren Lieben. Gehen sie mit anderen in Kontakt, geschieht das häufig auf der Beziehungsebene. Ist das Nähe-Bedürfnis sehr stark ausgeprägt, machen sie sich abhängig von der Meinung und Bewertung anderer. Zurückweisung oder Ablehnung ertragen sie schlecht.
Dies ist bei den Menschen sehr anders, bei denen die Distanz-Ebene ausgeprägt ist. Persönliche Beziehungen sind ihnen im Beruf unwichtig. Sie agieren auf der Sachebene und haben berufliche Ziele im Blick. Eingebundenheit in Teamstrukturen ist unerheblich – sie sind häufig Einzelkämpfer und Karriere-orientiert. Selbstverständlich wird auch hier das Extrem problematisch: Verliert die Person den Blick für andere und isoliert sich auch privat, kann das zu sehr selbstbezogenem und egoistischem Verhalten führen.
Auswertung und Analyse
Die meisten von uns erlangen auf jeder der Dimensionen einige Punkte, meist gibt es aber eine mehr oder weniger klare Tendenz in ein Koordinatenfeld. Besonders häufig entstehen dabei die Tendenzen „Dauer und Nähe“ oder „Wechsel und Distanz“. Aber auch die Verbindungen von „Dauer und Distanz“ oder „Wechsel und Nähe“ sind denkbar.
Nach der eigenen Positionierung ist es dann interessant, Entwicklungsräume zu betrachten. Vielleicht bemerken wir, dass unsere aktuelle Positionierung Probleme mit sich bringt. Die hohe Ausprägung von Dauer und Nähe hindert uns zum Beispiel am Mut zu neuen beruflichen Schritten und einem Sprung ins kalte Wasser. Ebenso kann eine ausgeprägte Wechseltendenz das Nähe-Bedürfnis im Job (oder auch privat) erschweren. In einem nächsten Schritt ist es also spannend, Ideen für zukünftige Entwicklungsräume zu entwerfen.
Ebenso können Teamkonflikte oder Konflikte als Paar aufgedeckt werden. Menschen, die auf der Suche nach Nähe im Job sind, tun sich mit ausgeprägten Distanz-Menschen schwer. Ebenso anders herum. Eine starke Wechsel-Tendenz kann in Teamstrukturen hinderlich sein, aber auch erfolgreich genutzt werden, wenn sie als Stärke betrachtet wird.
Die visuelle Darstellung macht das Verständnis dieser Dimensionen besonders sichtbar. Und sie kann Grundlage für Gespräche im Job oder als Paar sein. Bei der individuellen beruflichen Umorientierung kann sie außerdem helfen. Dann folgen Fragen wie:
- Wie müsste eine berufliche Tätigkeit ausgestaltet sein, damit sie meinen Bedürfnissen möglichst gut entspricht?
- Welche Herausforderungen könnten auf mich zukommen?
- Wo sehe ich Entwicklungspotenzial oder -bedarf?
- Finde ich hier Erklärungsansätze, warum mir der Mut zum Jobwechsel fehlt?
Das Quartett der Persönlichkeit: Das Riemann-Thomann-Modell in Beziehungen und Konflikten. Nico H. Fleisch. (2020) Haupt.