Und plötzlich: Funkstille

Seit über zwanzig Jahren sind wir Freundinnen. Es begann zaghaft und oberflächlich in der Mittelstufe. Unser Freundeskreis wuchs stetig zusammen – und blieb bestehen. Die Freundschaft zu dir damit auch. In unseren Zwanzigern lebten wir sogar zusammen in einer WG. Wir studierten das Gleiche, kochten abends, teilten Büffelei und Freizeitfreuden. Wir genossen das Studentinnenleben, besprachen unsere Sorgen und Hoffnungen. Trennungen von Partnern, Scheidung deiner Eltern, berufliche Umorientierung, neue Beziehungen – wir erlebten es stets hautnah und waren füreinander da. Wir machten unzählige Winterurlaube miteinander – und viele weitere Reisen.

Du warst eine Konstante in meinem Leben und in dem so vieler Freundinnen und Freunde mehr. Du warst bei allem dabei, warst gut gelaunt, liebtest das Lachen. Du kamst als Erste und bliebst am längsten. Auf deine Zuverlässigkeit und deine Unterstützung war immer Verlass. Du brachtest etwas Leckeres zu essen mit, packtest stets mit an.

Natürlich kannte ich auch deine Schattenseiten. Wir standen uns nah und auch wenn du nie gut über dich und deine Gefühle sprechen konntest, gehörte ich wohl zu den Menschen die am meisten davon mitbekamen. Du warst gern gemütlich und bequem. Veränderungen gehörten nicht gerade zu deiner Lieblingsbeschäftigung, Emotionen zeigen fiel dir schwer, für dich eintreten ebenso. Du wolltest dich abgrenzen von deiner traurig wirkenden Mutter und fürchtetest doch wie sie zu werden. Die großen Träumereien gestattetest du dir nicht – dein Selbstbewusstsein krankte häufig.

Der Druck in dir schien zuzunehmen, als einige von uns Kinder bekamen und sesshaft wurden. Dein aktueller Freund trennte sich von dir und das brachte dich ins Schlingern. Auch wenn du so gut wusstest wie ich, dass diese Trennung überfällig war. Sie nahm dir die wertgeschätzte Sicherheit – war sie wichtiger als die Leidenschaft? Es folgte eine Phase, in der der Frust zunahm. Ein interessierter und interessanter Mann war schwer zu finden.

Und dann saßen wir irgendwann zusammen in meiner Küche. Meine Kinder waren sehr klein und ich versuchte sie zu beschäftigen, das Abendessen vorzubereiten und dir gleichzeitig zuzuhören. Du hattest viel zu berichten und es sprudelte nur so aus dir heraus: ein neuer Mann, online kennen gelernt – deine Faszination war immens. Er war älter, stand mitten im Leben, hatte Verantwortung. Vieles sprach für dich dagegen – aber trotzdem: du warst hingerissen. Ich ermutigte dich dazu: Was soll´s? Wenn er der Mann ist der dich glücklich macht, dann kann es keine Gräben geben die unüberwindbar sind. Was kannst du verlieren?

Die Intensität eurer Beziehung nahm rasant zu. Viel teiltest du nicht mit mir. Was ich verstand, war: Es war wahnsinnig kompliziert. Eure Beziehung war eine ständige Achterbahnfahrt aus purer Anziehung, verletzender Ablehnung, übermäßiger Eifersucht und großer Liebesbekundungen. Und mit jedem Looping entferntest du dich weiter von uns. Es schien so, als könntest du es selbst nicht gut aushalten, uns so viel Kritisches über ihn erzählt zu haben. Wo all das am nächsten Tag nicht mehr wichtig und du ihm wieder ganz erlegen warst. Ich sah dich wie durch Nebelschwaden. Jeder Meter den du dich entferntest, machte das Ganze undurchsichtiger. Du meldetest dich kaum noch, erzähltest zunehmend ungerne von ihn.

Ich habe ihn bis heute nur zwei Mal gesehen. Die Faszination für ihn blieb mir verborgen. Er erschien dominant und selbstgerecht. Ich mochte weder die Art wie er sprach, noch die Weise wie er mit dir umging. Aber ich wusste, dass seine Wichtigkeit groß war. Also blendete ich die Geschichten der Kontrolle, der Beleidigungen und Ausraster von ihm aus und gab mir Mühe. Du schienst verschüchtert an seiner Seite, unsicher und klein. Und trotzdem völlig hingerissen – ich konnte es kaum glauben.

Völlig verstört und unter Tränen verließt du unsere Silvesterrunde vor über einem Jahr. Krise mit ihm. Das nahm dich so in Anspruch, dass du nicht bei uns bleiben konntest. Bis heute weiß ich nicht was er dir schieb. Warum er es nicht ertragen konnte dir einen Abend mit deinen Freundinnen und Freunden zu gönnen. Mit den Menschen die für dich mehr wie eine Familie waren. Die dich gut kannten und lange an deiner Seite standen. Viel mehr und viel kompromissloser als er. Aber das schien nicht mehr wichtig. 

Aus heutiger Sicht würde ich sagen: mit diesem Abgang riss unser Kontakt ab. Eine Freundschaft, die ich seit zwanzig Jahren niemals ernsthaft in Frage gestellt hatte, endete jäh. Viele Kontaktversuche verliefen ins Leere. Meist antwortetest du gar nicht, selten kurz. Es war, als wären wir vor Jahren flüchtige Bekannte gewesen. Mehr nicht. Als hätte es das gemeinsame Lachen und Weinen, das Erwachsen werden Seite an Seite, das Zusammenwohnen und Studieren, all die Urlaube mir ihrer schönen Zeit nie gegeben. Als hätten sie keine Bedeutung gehabt. Du schienst uns alle, deine Wahlfamilie, deinen Zufluchtsort, ausgetauscht zu haben gegen ihn. Als wäre es unmöglich das eine und das andere miteinander zu verbinden.

Zugegeben: ich bin ein emotionaler Mensch und ich war wahnsinnig sauer auf diesen Typ. Was tat er dir an und was machte er aus dir? Wie konnte er in Kauf nehmen, dass du dich seinetwillen von so vielen Menschen entferntest? Welche persönlichen Probleme musste er haben, dass dies sein Bild einer funktionierenden Beziehung war? Meine Wut auf ihn und dich wurde ich bei unserem Treffen nach vielen Monaten los. Damit konntest du überhaupt nicht umgehen und reagiertest ebenfalls aggressiv. Du fragtest warum wir uns so aufregten und dass du nicht gedacht hättest, dass es ein solch großes Problem für uns sei, wenn du dich kurzfristig wenig melden würdest. Ihr müsstet euch erst sortieren, er hätte eben Ansprüche an dich und wir alle müssten verstehen, dass die Freundschaften an Priorität verlören. 

Es passierte nicht mehr viel seit diesem Treffen vor einem Jahr. Wenige Kontaktaufnahmen endeten mit der Aussage du würdest gerne wieder Kontakt zu uns haben. Es passierte nichts. Eine Schleife die sich wiederholte.

So verging die Zeit. Aktuell suchen wir unseren Weg durch das Corona-Wirrwarr und jede ist gedanklich viel bei sich. Ich höre nicht auf zu rätseln, zu analysieren, zu versuchen zu verstehen. Bei all den Unsicherheiten scheinen mir die eng verbundenen Menschen wichtiger denn je. Es tut mir so gut zu wissen, dass wir gemeinsam durch diese Krise kommen und einander dabei stets beistehen werden. Wir geben uns Sicherheit und fangen uns auf. Wie kommst du durch diese Zeit? Wer nimmt dich in den Arm? Er?

Die Dinge die nun ohne dich stattfinden, wiederholen sich. Silvester, Wichteln, Geburtstage, Ostern… (alles natürlich digital oder kreativ auf Corona, aber sie finden trotzdem statt) – ohne dich. Und so schwindet meine Hoffnung, dass ein Zurück noch möglich sein wird. Selbst wenn wir alle dazu bereit wären: Ich weiß nicht wie es klappen kann. Zu viele Enttäuschungen, verpasste Momente, ungeteilte Erlebnisse, Höhen und Tiefen. Einmal zu häufig eine aufkeimende Hoffnung auf Kontakt, die du wieder ersticktest. Wie viel halten wir aus? Was ist zumutbar?

Was bleibt dann? Erinnerungen an andere Zeiten. Aber sie bekommen einen Beigeschmack von Traurigkeit, Verletzung und Nostalgie. Du warst ein selbstverständlicher Teil meines Lebens, niemals hätte ich gedacht, dass uns das passieren könnte. Vielleicht war das der Fehler. Ich habe es nicht kommen sehen, war mir unserer Freundschaft (zu) sicher. Ich sah uns alle in einer Alten-WG leben, dich samt deinem lauten Lachen mittendrin. Ich sah dich meinen Kindern eine Wegbegleiterin sein, eine Vertraute, eine Konstante. Ich sah uns viele weitere Feste zusammen feiern, stets gespickt mit deinen umfangreichen und köstlichen Mitbringseln. Wir würden zusammen in den Schnee reisen und an viele andere Orte. Und natürlich jedes alte Jahr miteinander verabschieden und das neue willkommen heißen. Wie wir es tun seit wir uns kennen.

„Was kannst du verlieren?“, habe ich dich gefragt. All das – weiß ich jetzt. All das hast du verloren. Und ich auch. Leider verstehe ich bis heute nicht, warum.

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